Dr. Mario F. Broggi ist Wissenschafter und war am Beginn seiner Tätigkeit, vorerst als freiberuflicher Forstingenieur für die Ausarbeitung der Waldwirtschaftspläne und viele weitere forstliche Planungen in Liechtenstein verantwortlich. Weiters ist er über viele Jahre als Privatdozent an den Universitäten von Basel und Wien für Fragen der alpinen Landnutzung und deren Umweltverträglichkeit tätig. Er leitete über sieben Jahre die Eidgenössische Bundesversuchs und Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL (Bundes-Forschungszentrum in der Schweiz), welches alle forschungsrelevanten Fragen zum Schutz, Produktion und Naturgefahren des Waldes abdeckt. Während dieser Zeit war er auch im Leitungsgremium der weltweit wirkenden Dachinstitution der forstlichen Forschung IUFRO tätig. Mario F. Broggi dürfte somit mit Forschungsfragen zum Wald und der Materie vertraut sein. Und übrigens, er besitzt die Jagdkarte, ging aber nie auf die Jagd.
Im Rahmen einer Podiumsdiskussion in Lichtenstein zum Thema stellt er fest, dass in der laufenden Debatte einiges zum Schutzwald und zur Wald-Wildfrage verzerrt dargestellt wird.
In der momentanen Politischen Debatte und der Medienberichterstattung zur Thematik gibt es zahlreiche Schwachstellen.
Es wird immer wieder auf eine eminente Gefährdung des Schutzwaldes hingewiesen. Der Schuldige ist das Schalenwild. Dieses Bild überzeichnet völlig den Sachverhalt und dient einzig und alleine der Panikmache. Es wird hier bewusst von massiven Forstwirtschaftlichen Problemen abgelenkt.
Mangelnde Kenntnisse über das Ökosystem Wald
Mario F. Broggi kommen bei solchen dramatisch skizzierten Bildern des Schutzwaldes vorerst Zweifel, ob in der Diskussion ausreichend Kenntnisse über das Ökosystem Wald vorliegen. Es wird ein rein anthropozentrischer Standpunkt eingenommen, der diktiert wie Wald zu funktionieren hat. Die Urwaldforschung, mit der er sich in den letzten 30 Jahren intensiv beschäftigt hat, spricht für ein modifiziertes Bild. Es verdichtet sich der Eindruck, das alpine Schutzwald-Management sei allzu stark vom forsttechnischen Interventionsglaube überformt. Die Sicherheit dient als Vorwand für aufwendige Massnahmen, die anderen Zielen dienen. Es wird die Vorteilhaftigkeit der bioautomatischen Schutzwirkung der natürlichen Walddynamik nicht ausreichend erkannt. Man meint, dem Wald mit Interventionen auf die Sprünge helfen zu müssen. Dabei wird seine Resilienz, seine Widerstandsfähigkeit selbst in Krisenzeiten, masslos unterschätzt.
Totschlagargument Sicherheit
Es wird forstpolitisch ein Waldbild suggeriert, welches bürokratisch wie propagandistisch mit scheinbar nützlichen Behauptungen den Zweck der generellen Gefahrenabwehr beschreibt. Das wäre dann 100% der Waldfläche oder zumindest der grösste Teil davon. Der Laie muss solch dargestellte Bedrohungen ernst nehmen, wie auch die Politik. Ökologische Betrachtungen kommen dabei zu kurz, die Erkenntnisse der erwähnten Urwaldforschung werden kaum berücksichtigt. Sicherheit wird als Totschlagargument verwendet, das legitime Verlangen nach Sicherheit wird bedient und die verlangten Mittel lassen sich so beschaffen. Man will die Öffentlichkeit mit solchen irrationalen Sicherheitsverlangen überzeugen.
Es ist offensichtlich, dass der Schutzwald je nach Interessenslage sehr unterschiedlich angesprochen wird und daraus wird unterschiedlich nötiges Interventionsverhalten abgeleitet. «Folgerichtig» werden im Alpenraum ca. 60% des Waldes mit besonderen Schutzerfordernissen bezeichnet und in ca.75% der Schutzwälder sei die Verjüngung nicht ausreichend, wo es also zu intervenieren gälte. Dazu werden auch abenteuerlich hohe mögliche Schadenssummen in Hunderten von Millionen genannt. Mit dem so gewählten Schutzwaldansatz ergibt sich mit solcher Betrachtung viel Interventionsfreiheit. So wird etwa die generelle Bedeutung des Waldes für den Wasserhaushalt genannt und auf die erlebten Gefährdungen im 19. Jahrhundert verwiesen. Vergleichen wir diese Prozentwerte mit dem Gebirgsland Schweiz, so wurde dort der Prozentsatz für eine risikobasierte örtliche Abklärung vor einigen Jahren in einem «WSL-Forum für Wissen» mit 9% der Waldfläche beziffert. Jeder Wald ist also vorerst einmal ein Schutzwald, aber örtlich mit unterschiedlichen Wirkungen. Die Naturgefahren-Forschung plädiert für die erwähnte Beurteilung einer risikobasierten Schutzwaldstrategie und nicht für eine Medial gesteuerte Panikhysterie.
Zudem haben wir bezüglich der Resilienz von Waldbeständen gegenüber grossflächigen Störungen wenig auf Erfahrung bezogene Kenntnisse, am ehesten noch für Windwürfe. Oder anders gesagt, man muss befürchten, das die Forschung einigen subventionierten Geschehnissen eher ausgewichen, weil dies heisse Eisen darstellen.
Andererseits habe ich in meinem Berufsleben noch nie einen Wald nach Naturereignissen gesehen, der seine Schutzfunktion vollständig verloren hätte. Im Gegenteil sind nach Sturmschäden liegengelassene Bestände für einige Zeit der beste Schutz vor Naturgefahren und auch gegenüber Wildschäden. Die Gewährleistung der Schutzfunktion funktioniert nach meiner Meinung selbst bei den Borkenkäferkalamitäten wie im Bayerischen Wald. Vielleicht wäre diese Schutzfunktion bei grossen Waldbränden in Frage gestellt, weil dann alles abgebrannt ist, jedoch kaum bei selbst grossflächigem Borkenkäferbefall. Dort setzt die Sukzession mit Waldverjüngung in der Regel auch in Berglagen durch Pionierholzarten zügig ein, ausser in subalpinen Lagen, wo alles länger dauern kann. Jedenfalls erscheinen die propagierten 60% Schutzwald mit erhöhten Schutzerfordernissen wesentlich zu hoch angesetzt. Mir fällt im Übrigen auf, dass Helikopter vor allem dort fliegen, wo der Schutz für den Menschen und hohe Infrastrukturwerte kaum eine Rolle spielen.
Die uhr des waldes ist eine andere als diejenige des menschen
Die Schutzwirkung des Waldes ist in einem unbewirtschafteten Bestand mit vielem Alt- und Totholz besonders ausgeprägt vorhanden. Ein Wald fällt im Übrigen auch nicht einfach zusammen und verliert damit seine Schutzfunktion wie suggeriert. Im Einvernehmen mit dem damaligen liechtensteinischen Forstamt habe ich als Waldplaner derartige Bestände in «ausserregelmässigem Betrieb» ausgeschieden. Wir waren der Meinung, sie seien nicht zu erschliessen und einfach in Ruhe zu lassen. Diese Wälder werden nun nachträglich meist als Schutzwälder deklariert. Irrig ist der Glaube, durch forstliche Intervention könne «hier und jetzt alles subito» geändert werden. So werden in mancher Wald-Wild-Untersuchung und in Gutachten, bereits Erwartungen innert fünf Jahren geweckt bzw. Resultate erwartet und vor allem wird ausgesagt wie ein Wald sich artenmässig zusammensetzen soll. Die Standortskunde hat zwar Fortschritte gemacht, doch grenzen manche getätigte Aussagen an den «forstlichen Götterblick» und es könnte anders kommen als man dachte. Ebenso wird sich das neuerlich auch international propagierte Ausweichen auf fremdländische Holzarten wie die Douglasie sich kaum bewähren. Die älteren Jahrgänge unter uns erinnern sich noch an die Douglasienschütte, die so manchen Bestand schädigte.
Die Abläufe und die Uhr des Waldes unterwerfen sich kaum solchen forstlichen Vorstellungen. Ein Buchenurwald kann beispielsweise über mehr als 100 Jahre einen dunklen Hallenwald bilden. Nach einem Sturm kann es mit der Dynamik der Verjüngung beginnen. Aufgrund solcher Beobachtungen ist auch eine langjährige Verjüngungspause eben keine Katastrophe wie dies in der hiesigen Schutzwaldfrage dargestellt wird. Es ist zudem auffällig, dass ein 100 Jahre alter Bestand vom Forst als alt bezeichnet wird. Die forstlichen Ertragstafeln hörten ja bei 120 Jahren auf, was der maximalen Umtriebszeit für eine genutzte Baumgeneration entsprach, aber bei weitem nicht dem möglichen Alter einiger Baumarten. Im bayerischen Steigerwald gibt es vitale über 300 jährige Buchen. Auf den Menschen übersetzt entsprächen 100jährige Buchen höchstens 30jährigen Leuten. Im Wald wird dann aber bereits vor dem Zerfall der Bestände gewarnt.
Wenn wir zudem festlegen, was wir vom Wald verlangen, kann dies leicht einseitig in eine Mussform gegossen werden. Damit wird aber jeder dialogische Ansatz um die Bedeutung der breiten Waldwirkungen erfolgreich im Keime erstickt. Wir sprachen früher von Schutz-, Nutz- und Wohlfahrtsfunktionen, wobei die Biodiversität unter den Schutzfunktionen subsummiert wurde. Dieser fachlich grenzüberschreitende Dialog mit den vielen Waldwirkungen fehlt heute.
die dynamischen widerstandskräfte des waldes werden unterschätzt
Die laufende Schutzwald-Debatte wir völlig überdehnt geführt. Die Wald-Wild- Problematik wird überzeichnet und die dynamischen Kräfte des Waldes werden massiv unterschätzt. Ein übersteigertes Sicherheitsbedürfnis kann nicht die richtige Antwort sein. Mit etwas mehr Unaufgeregtheit wäre einiges erreicht, ohne dass man auf vielen Flächen viel machen muss. Ich meine es müsste gelingen, der Öffentlichkeit wie der Verwaltung klar zu machen, dass wir es auch mit Problemen gesellschaftlich-psychologischer Ebene zu tun haben und nicht nur mit Naturgefährlichen. Das ist in unserer «Versicherungs-Gesellschaft» nicht ganz leicht zu bewerkstelligen. Zudem gibt es keine 100%ige Sicherheit.
Aus der Sicht der Forschung hat ein solches aufgeregtes Vorgehen bereits einmal ins Fiasko geführt.
Ich erinnere an das leider auch von der Forschung dramatisch postulierte «Waldsterben» der 1980- 90-er Jahre mit den prognostizierten Folgen. U.a. wurde in der Schweiz aus einem wichtigen Forschungsmund ausgesagt, dass grosse Teile des Waldes innert fünf Jahren tot seien. Sterben ist akut, die Wirklichkeit zeigte aber chronische Schäden. Die Prognose war falsch, die Therapie hingegen richtig (z.B. Einsatz Katalysator). Ich erinnere auch an die beiden Stürme «Vivian» und «Lothar», wo wir meist nicht die sinnvollen Konsequenzen gezogen haben und sinnleer die Helikopter viele Jahre herumfliegen liessen anstatt mehr Holz als Schutz einfach liegen zu lassen.
Hier wäre auch eine Debatte über den Borkenkäfer (vgl. https://mariobroggi.li/borkenkaefer). anzuschliessen, wo nach ökologische Belange zu wenig berücksichtigt werden. Und neuerlich ist ja der Zustand des Waldes mit dem Absterben vor allem von Buchen und Föhren in vieler Munde. Bereits wird wieder vom «Waldsterben» gesprochen und geschrieben. Das ist falsch, es gibt ein Baumsterben. Es gibt Trockenschäden und diese sind offensichtlich mit Klimaänderungen verbunden. Man könnte diese unterschiedlich absterbenden Bäume auf unterschiedlichen Boden- unterlagen auch als Chance sehen, Struktur und ursprüngliche Artenvielfalt in den Wald zu bekommen und nicht als Situation, in die man sich unter Lebensgefahr begeben muss. Und im Übrigen ist nicht jeder artenarme Wald Zeichen eines Biodiversitätsverlusts, sondern kann auch einen natürlichen Zustand darstellen.
Die forstwirtschaft entfernt sich wieder vom naturnahen waldbau
Die heimische Waldbaulehre gilt als vorbildlich naturnah. Davon ist in letzter Zeit eine Abkehr zu beobachten. Hierzu äusserten sich jüngst deutsche Waldwissenschafter und besorgte naturnah arbeitende Förster. Sie wandten sich mit offenen Briefen an die deutsche Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft wie auch an die Umweltministerin und machten darauf aufmerksam, dass es sich nicht nur um eine, vom Klimawandel getriebene Waldkrise handle. Das aktuelle Krisenmanagement sei rückwärtsgewandt und waldschädlich. Die Forstwirtschaft hat sich so von den Grundsätzen des naturnahen Waldbaues entfernt.
das schalenwild ist kein ungeziefer
In zahlreichen vorliegenden Wald-Wild-Gutachten wird von einer nötigen ganzheitlichen Betrachtung der Wald-Wildfrage gesprochen. Man spricht sich für eine integrale Sichtweise aus, handelt aber nicht danach. Es verbleibt der anklagende Grundton gegen das Schalenwild (Hirsche, Reh, Gemse, Steinwild), der Abschuss steht alleinig im Vordergrund. Das Schalenwild wird als «Ungeziefer» gesehen. Es werden Tötungsgatter zur Elimination des Rotwildes vorgeschlagen, beschönigend «Einsprünge» genannt. Dies ist Kreatur verachtend und zeigt keine Spur von Ethik und Demut vor der Natur. Das Schalenwild (Hirsch, Reh, Gemse) gehört zum Ökosystem der Natur und somit auch des Waldes. Oberstes Ziel ist die Verbesserung des Wild- Lebensraumes, vor allem mit Aufhebung der Auftrennung der Landschaft. Eine integrale Betrachtung der Wald-Wildproblematik verlangt eine «Opfersymmetrie» aller Beteiligten, der Land- und Forstwirtschaft, der Raumplanung (Zersiedlung), Verkehr, und der Freizeitaktivitäten. Das Wild wird heute zunehmend durch Freizeitaktivitäten in den Wald getrieben.
Forstwirtschaft ist am heutigen ungünstigen Waldbild mitbeteiligt
Als Mit-Verursacher für die heutigen ungünstigen Lebensräume für das Wild wäre auch die Forstwirtschaft zu benennen. Sie hat uns während eines Jahrhunderts durch Kahlschläge mit anschliessenden häufig standortsfremden Fichtenverjüngungen kaum strukturierte Waldbilder hinterlassen. Dieses «mea culpa», diese Mitverantwortung, hört man leider kaum. Im Forstwesen galt rückblickend ein Herr-im-Haus-Prinzip, das einem planwirtschaftlichen und traditionalistischen Denken verhaftet war und teils noch ist. Das führt zum Durchsetzungsanspruch einer so definierten Forstpolitik, auch und gerade in der Schutzwaldfrage. Von einer ganzheitlichen Betrachtung bleibt ausser dem zu steigernden Abschuss nicht viel übrig. Die mit Verordnung erlassenen ganzjährigen Wildruhezonen werden auf Druck der Berggänger (Alpenverein) wieder aufgehoben, obwohl sie nur einen ganz kleinen Teil der Landesfläche ausmachen. Die seit Jahrzehnten propagierten Wildtierkorridore und die damit verbundenen notwendigen Ökobrücken wurden aus Kostengründen nur sehr selten oder gar nicht erstellt. Tatsächliche Raumplanung mit Wildtier Überlegungen werden versprochen, Umsetzung nicht erwünscht.
Die letzten Rückzugsgebiete für unsere Wildtiere werden erschlossen ohne Berücksichtigung der weiteren Folgen.
Verbesserungsmassnahmen gehören in die integrale Betrachtung und nicht alleine die Wildreduktion.